Der Putin im Kopf
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SZ.de
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19. Februar 2016, 19:04 Uhr
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Reportage aus Russland
Russlands
Präsident ist dabei, die Welt zu verändern. Aber wie hat er sein Land
verändert? Eine Reise nach Jaroslawl, zu den Menschen, die seit 16 Jahren
unter Putin leben.
Von Tim
Neshitov und Max Sher (Fotos)
Kürzlich
erfuhr man Neues über Wladimir Putins Töchter.
Katerina verwaltet wohl einen prall ausgestatteten Forschungsfonds an der
Moskauer Universität. Maria ist offenbar mit einem holländischen Unternehmer
verheiratet, liebt offenbar Hermann Hesse und hat offenbar in Endokrinologie
promoviert (über kleinwüchsige Kinder). Offenbar, denn Putin hütet sein
Familienleben wie ein Staatsgeheimnis und hat entsprechende Berichte
kremlferner Medien nie bestätigt.
Über
Putins Privatvermögen, seine Kriegs- und Friedenspläne, über so etwas wie seine
Gefühle weiß man noch weniger. Man weiß über Putin, 63, nicht viel mehr
als das, was Putin für angemessen hält. Er war ein spätes Kind einer
bescheidenen Familie, er war beim KGB, er trank in den Achtzigern gerne Bier in
Dresden und nahm etwas zu, er schwimmt nun, er reitet.
Putins
professionelle Selbstverschleierung macht die Frage Who is Mr Putin? zur
Preisfrage für Politologen und Journalisten. Wie der jüngste, dürftige BBC-Film
über Putins Paläste und Yachten zeigt, bleibt sie unbeantwortet. Das System
Putin wiederum wurde hinreichend beschrieben: eine selektive Oligarchie, die
sich auf Rohstoffe und Geheimdienste stützt.
Wie
aber haben mehr als 16 Jahre Putin die russische Gesellschaft
verändert? Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch sprach im Frühjahr 2014,
nach der Annexion der Krim, vom "kollektiven Putin". Der
Ausdruck ist abstrakt, aber beliebt. Bereits nach seiner zweiten Amtszeit
führte eine Oppositionspolitikerin das Wort vom kollektiven Putin im Mund.
Damals war nicht klar, wie Putin es bewerkstelligen würde, an der Macht zu
bleiben. Aber man ahnte, dass er an der Macht
bleiben würde.
Zeit
für eine Begegnung mit diesem kollektiven Putin, mit dem Putin in den Köpfen.
Gibt es ihn überhaupt? Eine Forschungsreise nach Jaroslawl.
Der Wind an der
Wolga
Die
uralte, im Winter fröhlich verschneite Stadt, 280 Kilometer nordöstlich
von Moskau, durchlebte vor einigen Jahren bewegte Zeiten. Heute leben hier ein
Stuntlehrer, der den Namen des Präsidenten trägt, ein Trickfilmzeichner, der
einen Oscar bekommen hat, ein Zupacker, der nicht in der großen Politik,
sondern ganz praktisch etwas bewegen möchte, sowie eine junge Frau, die eher
für ihr Recht auf französischen Käse demonstrieren würde als für die Rechte
eines weggesperrten Oppositionellen.
Aus
dem Tagebuch Franz Kafkas, 1. Juli 1913: "Das Bild der
dreihundertjährigen Romanow-Feier in Jaroslawl an der Wolga. Der Zar, die
Prinzessinnen verdrießlich in der Sonne stehend, nur eine zart, ältlich,
schlaff, auf den Sonnenschirm gestützt, blickt vor sich hin. Der Thronfolger
auf dem Arm des ungeheuren barhäuptigen Kosaken. Auf einem anderen Bild
salutieren in der Ferne längst passierte Männer."
Kafka
beschrieb ein Zeitungsfoto, Jaroslawl war damals voller Kirchen, hatte
Straßenbahnen und sogar ein Kino. Die Stadt existierte vor allem für ihre
Bewohner. Für den Rest der Welt existierte sie, wenn der Zar mal vorbeikam.
Viele Menschen in Jaroslawl schätzen bis heute genau das.
Das
Leben ist bequemer und günstiger als in Moskau, die Luft klarer, obwohl es auch
hier Fabriken gibt. Pharma, Bier, Milch, eine Raffinerie, den Unternehmen
geht's noch gut. Kirchen geht's immer besser, es gibt derer drei Dutzend und
drei blühende Klöster (ein Kloster und eine Kirche sind auf dem
1000-Rubel-Schein abgebildet). Die Pelmeni schmecken. Moskauer kommen
neuerdings zum Auslüften nach Jaroslawl, Reisen ins Ausland können sich viele
nicht mehr leisten. Der Wind an der Wolga tut gut. Es dauert dreieinhalb
Stunden mit dem Zug.
Denkmal: Jaroslaw der Weise |
In
Jaroslawl leben 600 000 Menschen, etwa so viele wie in Stuttgart. Hier
arbeitete in den letzten Jahren seines Lebens Boris Nemzow, der zungenfertige
Putin-Kritiker, der in Rufweite des Kremls erschossen wurde. Nemzow war
Abgeordneter der Jaroslawler Regionalduma.
Politisch
ist diese Stadt interessant, weil sich hier vor vier Jahren ein
zivilgesellschaftliches Erdbeben ereignete. Jewgenij Urlaschow, ein
unabhängiger Kandidat, schlug bei der Bürgermeisterwahl den Kandidaten der
Regierungspartei Einiges Russland. Urlaschows
Slogan: "Gegen Gauner und Diebe". Der Volksbürgermeister, wie er
genannt wurde, konnte lässig zu "Kalinka" tanzen und hielt sich ein
Jahr und drei Monate im Amt. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft. Es wird
wegen Schmiergeldes ermittelt.
Das
Schicksal Urlaschows interessiert hier aber kaum noch jemanden. Das ist wohl so
eine Eigenschaft des kollektiven Putin: Er vergisst schnell. Es sei denn,
Erinnerungen sind staatlich verordnet, wie die Erinnerung an den Sieg
über Hitler.
Patriotische
Früherziehung
Sowjetstraße in Yaroslavl |
In
der Sowjetstraße in Jaroslawl ist in einer rosa Villa aus dem 18.
Jahrhundert das Zentrum für Patriotische Erziehung untergebracht. Solche
Zentren gibt es vielerorts im Land, sie setzen Vorgaben aus Moskau um. Das
Zentrum in Jaroslawl hat dieses Jahr 45 Veranstaltungen mit folgendem
Ziel durchzuführen: "Zivilgesellschaftliche und patriotische Erziehung der
Jugend, Erziehung zu Toleranz unter Jugendlichen, Gestaltung von rechtlichen,
kulturellen und moralischen Werten."
Mit
der Durchführung beauftragt ist Anna Lugowaja, eine 28 Jahre alte
Historikerin mit offenem Blick und glattem Haar, Ohren frei. Sie übersetzt das
Beamtenrussisch. Es gebe Trainings im Wehrlager: Kalaschnikows zusammensetzen,
schießen, robben. Es gebe Treffen mit Kriegsveteranen. Es gebe Kostümbälle, auf
denen man so tanze, wie im 19. Jahrhundert getanzt wurde, Quadrille,
Polonaise. Die Jugendlichen sollen die Geschichte ihrer Heimat kennen und in
der Lage sein, die Heimat zu verteidigen. Es ist einen Tick zu warm in Annas
Zimmer, ihre Kollegin Nadeschda, erst 23 alt, bietet Beuteltee und
Kekse an. Es riecht nach altem Holz. Während des Kriegs gegen Napoleon war in
dieser Villa der Stab der Bürgerwehr untergebracht. Draußen schneit es
in Flocken.
Nadeschda,
Anna, wer in Ihren Augen ist ein Patriot?
"Jemand,
der zu seinen Mitmenschen gut ist. Der die Umwelt schützt. Was noch . . .?
Vielleicht noch einen Tee?"
Achtet
ein Patriot darauf, dass die Verfassung seines Landes geachtet wird? Die
russische Verfassung sieht zum Beispiel unabhängige Gerichte vor.
"Klar",
sagt Anna. "Aber wir arbeiten jenseits der Politik." Es schneit
und schneit.
"Wir
leben heute viel besser als im Krieg", sagt Nadeschda. Sie meint den
Zweiten Weltkrieg. "Wir haben genug zu essen, wir
haben Klamotten."
Bedauerlich
sei, dass die Finanzierung für ihr Zentrum dieses Jahr um zehn Prozent gekürzt
wurde, die Zahl der vorgeschriebenen Veranstaltungen aber nicht. Geschenke für
Veteranen werde man aus eigener Tasche bezahlen müssen.
Gedankenspiel:
Sind Patrioten Menschen, die wollen, dass es ihrer Heimat besser geht? Oder
doch Menschen, die ihre Heimat immer so lieben, wie sie ist, egal was kommt? In
Russland lernt die Jugend gerade wieder Letzteres, wie zur Sowjetzeit. Über den
inhaftierten Volks-OB Urlaschow spricht man nicht im Zentrum für Patriotische
Erziehung. Wie man auch darüber nicht spricht, dass die Bürgermeisterwahl in
Jaroslawl nun sicherheitshalber ganz abgeschafft worden ist.
Anna
sagt dazu: "Die Menschen denken eh: Wieso soll ich wählen? Mich anziehen,
hinauslatschen . . . Ist eh alles gekauft."
Im
April 2012 latschten noch 45,5 Prozent der Wahlberechtigten
in Jaroslawl zur Stichwahl ihres Stadtoberhaupts (zum Vergleich: zur letzten
OB-Stichwahl in München latschten 38,5 Prozent). Etwas lag in der
Luft. In Moskau gingen seit der offenbar gefälschten Dumawahl vom Dezember 2011 Zehntausende
auf die Straße. Man sprach von einem "Russischen Frühling".
Demo für einen
guten Käse
Евгений Урлашов: "гражданская платформа" |
In
Jaroslawl trat der ewige Kandidat der Regierungspartei, seit 1989 an
der Macht, nicht mehr an. Und nun standen zur Wahl: ein weiterer Kandidat von
Einiges Russland und Urlaschow, ein damals 43-jähriger Stadtrat, Jurist und
gerade neu als Oppositioneller. Aus der Putin-Partei war Urlaschow erst wenige
Monate davor ausgetreten. Nun versprach er: "Ich werde die Stadt den
Menschen zurückgeben."
Wer
wählte damals Urlaschow? Lena I., Rechtsanwältin, 30. Sie findet, Russland
brauche "neue Gesichter an der Macht", und sie fand es
"schade", dass Urlaschow inhaftiert wurde. Aber heute für ihn zum
Beispiel auf die Straße zu gehen, das würde sie nicht machen. "Heute würde
ich für einen guten Käse auf die Straße gehen", sagt sie. "Für
Brie." Sie lacht dabei. Französischen Brie findet man in russischen
Geschäften nicht mehr, seit Russland und Europa einen
Sanktionskrieg führen.
Alexander
M., KfZ-Mechaniker, 28: "Urlaschow hat viel getrunken, ich habe ihn
in einem Restaurant mal richtig besoffen erlebt. Aber er war besser als Einiges
Russland. Jeder wäre besser gewesen. Deswegen klebte ich an mein Fahrrad den
Sticker 'Freiheit für Urlaschow', als sie ihn einsperrten. Aber heute? Der
Frühling ist vorbei, Freunde."
Wadim
(Name geändert), 28, Bauunternehmer und Karatekämpfer, sagt:
"Wer die Augen aufmacht, sieht alles. Das Land geht den Bach runter. Aber
meine Frau arbeitet bei der Bahn. Wenn ich laut sage, was ich denke, kriegt sie
Ärger. Außerdem teilt sie meine Meinung nicht. Wir sprechen zu Hause nicht mehr
über Politik."
Eine
weitere Eigenschaft des kollektiven Putin: Er schüchtert seine Liebsten
sanft ein. Man hört sie dann nicht mehr.
Dächer, Löcher,
Deppen
Urlaschow
gewann 2012 die Wahl in Jaroslawl. Einer seiner Mitstreiter, Sergej
Balabajew, erinnert sich: "Er schlüpfte irgendwie durch. Die da oben
haben's verpennt."
Balabajew
ist heute einer der drei Oppositionspolitiker in der Jaroslawler Regionalduma,
er darf jeden Tag in das zaristische Gebäude mit Portikus und Säulen kommen. An
Balabajew kann man das Wesen von Politik in Putins Russland studieren.
Er
ist ein Zupacker. Mit 22 hatte er schon ein Wirtschaftsstudium an
einer Militärhochschule hinter sich und kommandierte einen motorisierten
Infanteriezug, Jahr: 1993. Vater war er auch, musste aber in einer Kaserne
hausen. Er schied aus der Armee aus, ging zu einer Bank, kandidierte für den
Stadtrat, Jahr: 1999. Eine Zeit apathischer Ernüchterung. In Moskau legte
ein erschöpfter Jelzin nach neun Jahren Demokratisierungschaos die Zügel in die
Hand seines Geheimdienstchefs (Putin). In Jaroslawl ging Balabajew von Tür zu
Tür und warb für sich, den Zupacker.
"So
viel Galle ist mir nie entgegengeschlagen. Für die Menschen war ich noch ein
Schmarotzer, der an den Trog wollte."
Balabajew
setzte sich als unabhängiger Kandidat durch. Und trat Putins Partei bei. Das
taten damals viele. Der künftige Volksbürgermeister Urlaschow trat übrigens
erst 2008 bei, als einige bereits austraten. Auch Balabajew verließ
die Partei wieder.
Heute
kämpft er für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Ihm schreiben Bewohner
baufälliger Häuser, sie beschweren sich über geborstene Kanalisationsrohre,
über Schlaglöcher . . . Die Russen sagen über Russland immer, es gebe
hierzulande zwei Probleme: Straßen und Deppen. Nun sagen sie, es gebe noch ein
drittes Problem: Deppen, die Straßen sanieren (und daran scheitern).
Waisenkinder ab 18 haben Anspruch auf eigene vier Wände. Balabajew
setzt Schreiben auf, an die Stadtverwaltung, an die Staatsanwaltschaft.
"Es ist erstaunlich, was bei uns alles vorgeschrieben ist. Raumtemperatur,
Abstände, Quadratmeter. Mit den richtigen Paragrafen kann man
viel bewegen."
Dieser
Kampf gegen Mühlen, die langsam, aber dann doch mahlen, bringt Balabajew eine
gewisse Popularität ein. Auf ihn ist Verlass, sein Arbeitstisch ruht unter
hohen Papierstapeln. Paradoxerweise kämpfen hundert Meter weiter Kollegen der
Regierungspartei gegen das gleiche dysfunktionale System. Im Bürgerbüro von
Einiges Russland am Sowjetplatz empfangen erfahrene Juristen besorgte Bürger.
Heute: Eine Frau, die wegen Schwangerschaft gefeuert wurde; eine Frau, die eine
psychiatrische Klinik verklagen will, in der sie in den Achtzigern
zwangsbehandelt wurde; jemand, der seinen Optiker verklagen will. Sonst: tropfende
Dächer, geborstene Rohre, Schlaglöcher - 15 000 Anträge seit
Eröffnung des Bürgerbüros vor acht Jahren.
IAuf Wohnproblematik ist hier Jelena Ogurzowa spezialisiert, ein
Quell reifer, mütterlicher Eloquenz. Sie versichert: Es bringt schon viel, wenn
man bei einem säumigen Hausverwalter anruft und sagt, man rufe von Einiges
Russland an. Oft helfe es aber, die Leiden der Menschen einfach anders zu
formulieren. "Es bringt nichts, wenn einer schreibt: Bei uns ist Land
unter! Es muss heißen: Überflutung der Kellerräume
durch Fäkalwasser."
Auch auf Ogurzowa ist
Verlass. Sie sagt: "Wir beseitigen den rechtlichen Nihilismus in
den Köpfen."
In Jaroslawl sieht also
der politische Alltag so aus, dass Einiges Russland und der
Oppositionspolitiker Sergej Balabajew bisweilen einfach am selben
Strang ziehen.
Kann man von Balabajew
erwarten, dass er das System infrage stellt? Boris Nemzow, sein Sitznachbar in
der letzten Reihe des Plenarsaals, hatte es getan. Er war freilich früher ein
hohes Tier in Moskau gewesen. Nun ist Nemzow tot. Hier legten sie übrigens nie
eine Schweigeminute für ihn ein. Der Bürgermeister Urlaschow war kein hohes
Tier. Aber nach seiner Wahl wollte er nicht mehr nur gegen Schlaglöcher
kämpfen, zumal Stadtrat und Duma ihm etliche Geldhähne zugedreht hatten. Er
stellte lieber das System infrage.
Am 19. Juni 2013 trommelte Urlaschow
Tausende Menschen am Sowjetplatz zusammen. Jaroslawl sei die erste Stadt in
Russland, sagte er, die gegen "den korrupten Haufen" aufgestanden
sei. Er meinte die Partei Einiges Russland. Er haute den Gouverneur der Region
Jaroslawl in die Pfanne, der aus seinem Amtszimmer die Versammlung gut sehen
konnte. Manche Gouverneure werden in Russland nicht mehr direkt gewählt,
sondern von Putin entsandt. "Keiner von euch hat ihn gewählt!", rief
Urlaschow. "Er wurde von einem gewissen Menschen ernannt, und nur dieser
Mensch hat das Recht, ihn abzuberufen! Das Volk aber hat kein
solches Recht!"
Urlaschow forderte
Putins Gouverneur auf, sich einer Wahl zu stellen, rief, er werde selbst gegen
ihn antreten. Zwei Wochen später wurde der OB verhaftet.
Sergej Balabajew kann
man wohl einen mutigen Mann nennen. Urlaschow wollte ihn neben vier Dutzend
weiteren Kandidaten für die Regionalduma-Wahl aufstellen. Nach Urlaschows
Verhaftung sprangen alle ab, nur Balabajew nicht. Er trägt eine Gaspistole.
Sein wohl politischster
Akt bis jetzt war der Antrag, die OB-Wahl wieder einzuführen (keine Chance).
Sein Herzensprojekt allerdings ist - obwohl in der Stadt vor allem Eishockey
populär ist - die Rettung des unterfinanzierten Fußballvereins Schinnik (der
Name kommt von "Schina", Reifen; in Jaroslawl werden Autoreifen
hergestellt). Um den FC Schinnik zu retten, schickte Balabajew einen Brief nach
Moskau, an: Wladimir Putin. Dieser antwortete nicht.
Ein Putin, der nach Rio will
Juri Putin в.контакте |
Putin ist ein sehr
seltener Name in Russland. In Jaroslawl lebt Jurij Putin. Er wurde 1979 als Sohn einer Lehrerin
und eines Arztes geboren. Als er klein war, erzählte ihm sein Vater, sie hätten
entfernte Verwandtschaft in Leningrad, so hieß damals Wladimir Putins Heimatstadt
Sankt Petersburg. Aber sie sind nie hingefahren, hat sich nie ergeben. Als
Wladimir Putin im Jahr 2000 Präsident der Russischen
Föderation wurde, sind sie erst recht nicht hingefahren. "Es wäre
merkwürdig gewesen", sagt Jurij Putin. "Guten Tag, Herr Präsident,
übrigens, wir sind irgendwie verwandt."
Putin ist Trainer an
einer Stuntschule für Kinder und Jugendliche, und wenn ihn Eltern auf seinen
Namen ansprechen, sagt er, er trage bloß denselben Namen wie der Präsident. Er
sagte das auch vor ein paar Jahren am Flughafen, als er Urlaub mit einem Freund
namens Medwedjew machte. "Aber nicht alle fragen nach. Eltern bringen ihre
Kinder zu mir, weil ich einen guten Ruf als Trainer habe, nicht wegen
des Namens."
Über Putin in Moskau
spricht Putin in Jaroslawl mit respektvoller Distanz. Jurij hat Sportpädagogik
studiert und schätzt es sehr, dass ein sportlicher Mensch das höchste Amt im
Staat bekleidet. Aber ein Vorbild fürs Leben sei der Präsident nicht. "Als
er an die Macht kam, war ich schon erwachsen und ein Profi. Mich diszipliniert
mein Beruf, nicht mein Name." Jurij ist Pädagoge in dritter Generation, er
raucht nicht, trinkt nicht, achtet auf seine Sprache. Sein Körper ist
eh durchtrainiert.
Putin träumt von
Brasilien. Er muss aber sparen, seit der Rubel abgestürzt ist. "Meine
Finanzen singen Romanzen", sagt er. Das sagt man so in Russland. Jurij
Putin weiß genau, woran das liegt, dass seine Finanzen Romanzen singen. Krieg
in der Ukraine, Sanktionen, Gegensanktionen, Krieg in Syrien. Aber das bedeutet
nicht, dass er deswegen Frust auf Wladimir Putin schiebt. "Ein Krieg ist
immer ein politisches Spiel", sagt er. "Wer daran schuld ist, wissen
nur die Schuldigen. Uns wird im Fernsehen etwas erzählt, in Europa wird das
Gegenteil erzählt. Und wo liegt die Wahrheit?"
Es gibt Dinge, die sind
greifbar. Jurij Putin kommt im Sommer gerne mit dem Fahrrad zur Arbeit. Er hat
ein Fahrrad der Marke BMW, gebraucht gekauft. Seine Freunde fragen ihn: Na, wo
ist dein BMW? Humor ist greifbar. Jurij sieht, dass immer mehr Menschen Rad
fahren, joggen, snowboarden. Sport ist greifbar. Um in seine Halle im ersten
Stock eines sauberen Sportzentrums zu gelangen, muss er im Foyer blaue
Schuhüberzieher anziehen, dingfeste Dinger; aus der Cafeteria riecht es nach
Kaffee und Blätterteig, unverwechselbar. Er spricht über sein Leben, an ihm
vorbei fliegen Kinder: einfache Salti, zweifache Salti, Füße landen, Füße
bremsen, einer macht endlos Klimmzüge, man kann sie zählen.
Aber Politik?
"Wissen Sie, Stalin war erst Gott, dann Monster. Nun sagt man: Stalin hat
Millionen umgebracht, aber ohne ihn wären wir Amerikas Finanzsklaven. Ich
denke, mit Putin wird es ähnlich sein. Man kann es nicht allen
recht machen."
Jurij Putin ist nicht
verheiratet und hat keine Kinder. Er sagt, dafür habe er zu viele Schüler, gehe
in seiner Arbeit auf. Der Schuster trägt die schlechtesten Schuhe. Dieses
Sprichwort gibt es auch in Russland. Jurij verwendet es, nur lautet es in
Russland drastischer, der russische Schuster hat gar keine Schuhe. Außerdem
hätten Frauen heute andere Prioritäten, sagt Putin, sie
seien konsumorientiert.
Jurij Putins Arbeit,
sein Privatleben, alles, was zählt, entfaltet sich in einem politikfreien Raum.
Seine Schüler kriegen Rollen in Actionfilmen, Putin will, dass sie nicht
rauchen, nicht trinken, sich bei niemandem einschleimen. Er versucht, ein guter
Sohn zu sein.
Das ist eine weitere
Eigenschaft des kollektiven Putin. Wenn er richtig gute Absichten hat, versucht
er gleich, ein guter Mensch zu sein. Ein guter Bürger zu sein - was bitte ist
das denn?
Enten und ihre Füße
Die Universität in der Revolutionsstraße Yaroslavl |
In der Revolutionsstraße
in Jaroslawl hängt an einem der Häuser folgende Gedenktafel aus Marmor:
"An diesem Ort passierte am 24. Juni 1794 gar nichts." Die
Tafel drückt eine gewisse Geschichtsmüdigkeit aus. Ein Denkmal ehrt den
Stadtgründer, Jaroslaw den Weisen, der hier im 11. Jahrhundert einen
Bären erlegt haben soll. Ein anderes ehrt Lenin, der Kirchen sprengen ließ. 2010 feierte man den 1000. Stadtgeburtstag. Ein
Mäzen baute eine Kathedrale genau dort, wo die Bolschewiken eine in die Luft
gejagt hatten.
Im sowjetisch bebauten
Norden der Stadt wohnt die Software-Entwicklerin Jewgenija Korniljewa, 28. Sie interessiert sich
wenig für Geschichte. Sie liest Carlos Castaneda und Robert Burns und fährt
Motorrad. Ihr Maskottchen ist ein Schaf aus Plüsch, sie nimmt es auf ihre
Europa-Reisen mit. Auch beim Bungee-Sprung letztes Jahr in Sotschi war das
Schaf dabei. 208 Meter, sieben Sekunden
freier Fall. Politik findet Jewgenija uninteressant. Sie geht jede Woche zum
Yoga und in einen Malkurs. Mit ihrem Motorrad ist sie schon zur Quelle der
Wolga gebrettert, 600 Kilometer.
Ihrer Mutter, einer
Steuerinspektorin mit sowjetischer Jugend, will sie die Welt zeigen.
Ihr Vater,
ein Lokrangierführer, hat die Welt auch noch nicht gesehen, er mag aber auch
nicht mehr. Er angelt lieber.
Jewgenija war mit ihrer Mutter schon in
Frankreich, in Italien, sie spart auf Neuseeland.
Putin?
Jewgenija fällt dazu die Krim ein. Sie hält es für richtig, dass die Krim nun
zu Russland gehört. Sie sagt das in einem ukrainischen Restaurant, in dem sie
ukrainische Teigtaschen bestellt. "Prost", der ukrainische Schnaps
wärmt. Es sei wichtig, sagt Jewgenija, sich geistig und seelisch weiter zu
entwickeln, permanent. Nicht Karriere machen. Sie freut sich, wenn ihr auf
ihren Motorradreisen Lebenskünstler begegnen, mit denen sie über die Welt
sprechen kann. Ein Kranführer in Torschok machte sie einmal auf Enten am Ufer
eines Teichs aufmerksam. "Die meiste Zeit verbringen die Enten im Wasser,
wir sehen ihre Füße nicht, und wir vergessen, dass auch sie welche haben. So
ist das mit vielem im Leben."Jewgenija
erinnert sich an die Neunziger, als sie nicht genug zu essen hatten.
"Fleisch gab's gar keins." Für die Großeltern fand man keine
Medikamente. "Wir sind heute mit allem zufrieden. Hauptsache, es gibt
bitte keinen Rückfall in die schlimmen Zeiten."Eine
von Jewgenijas Freundinnen arbeitet im Pharmawerk und erzieht alleine zwei
Kinder.
Sie sagt: "Ich habe genug Hämorrhoiden, ich kann mich nicht auch
noch mit Politik beschäftigen." Hämorrhoiden sind in Russland ein
Synonym für Sorgen. Diese junge Frau steigt nachts in eins der Löcher, die
Stadt und Kirche am Tag der Taufe Jesu ins Eis bohren lassen. Es ist ein
Kirchenfest, aber viele tauchen, weil's coole Selbstüberwindung ist, wie
Bungee-Springen. Der Wolga-Wind, die Kälte, die nackten Körper.
Großes Thema in
der Stadt: Wäscht man sich beim Eisbaden die Sünden weg? Die Kirche meint: Eher
nicht, aber schaden tut's auch irgendwie nicht.Vieles
ist heute irgendwie in Russland. Lügen ist irgendwie in Ordnung, denn wer
kennt schon die Wahrheit. Klauen geht irgendwie auch, denn man ahnt, dass
in Moskau sehr viel geklaut wird. Es ist irgendwie egal, ob und wie oft gewählt
wird. Die Kirche kämpft gegen Feuerbestattungen und Abtreibungen, die
Gotteshäuser werden gut beheizt und bewacht.
Viele in Jaroslawl beten in
Kirchen, aber sie tragen dabei ihre Alltagsgesichter, und das ist irgendwie
unheimlich. In der Schule Nummer 5 dürfen die besten Schüler im Malunterricht
Wladimir Putin porträtieren.In
Jaroslawl lebt Nadeschda Kukina, geboren 1957. Sie verteilt Essen in einer
Klinik. Das Holzhaus, in dem sie eine Wohnung hatte, brannte im April ab. Eine
neue Wohnung bekam sie nicht. Sie schrieb an Wladimir Putin. "Einen Brief
im Internet", sagt sie. Sie wohnt nun bei ihrem Sohn. Er hat zwei Kinder,
arbeitet als Schweißer in einem Werk des japanischen Bagger-Herstellers Komatsu
und schläft jetzt mit seiner Frau auf der Couch im Kinderzimmer. Bei der
nächsten Wahl wollen sie Wladimir Putin wählen. Warum? "Sonst werden wir
hier ewig aufeinander hocken."
Großer Künstler
Alexander Petrov empfängt Oskar |
In
Jaroslawl lebt der Trickfilmzeichner Alexander Petrow. Für das Werk "The
Old Man and the Sea" gewann er im Jahr 2000 einen Oscar. Wenn er
wollte, könnte er zum Beispiel in Los Angeles leben. Aber er fühlt sich in
Jaroslawl wohl. Anders als Putin ist Petrow ein verbreiteter Name in Russland.
Dieser Petrow sieht ganz anders aus als etwa der russische Präsident Petrov in
der amerikanischen Fernsehserie "House of Cards". Den spielt der
grandios eispickelhafte Lars Mikkelsen. Der Petrow in Jaroslawl hat einen
milden Blick und einen Bart. Putin kennt er persönlich und schätzt ihn.
Alexander
Petrow zeichnet mit Öl auf Glasplatten, mit seinen Fingern, nicht mit dem
Pinsel. 24 Gemälde für eine Sekunde Film. Das ist nur die Technik.
Dahinter ist eine Haltung. Er zeichnet, um die Welt zu erkunden, Unterhaltung
hat er nie gemacht. Kann er einfach nicht. Er hat zum Beispiel Dostojewskis
"Der Traum eines lächerlichen Menschen" verfilmt. Es fing
damit an, dass er als Schüler Ende der Sechzigerjahre in einem Kino (es gab in
Jaroslawl einst ein Kino, das ausschließlich Trickfilme zeigte) den Puppenfilm
"Mein grünes Krokodil" sah. Da verliebt sich ein Krokodil in eine
weiße Kuh, und alle Tiere lachen, dämliche Nilpferde lachen. "Ich habe
mich dabei ertappt, dass ich heulte", sagt Alexander Petrow. "Aber
ich wusste nicht, warum ich heulte."
In
Jaroslawl lebt Nadeschda Kukina, geboren 1957. Sie verteilt Essen in einer
Klinik. Das Holzhaus, in dem sie eine Wohnung hatte, brannte im April ab. Eine
neue Wohnung bekam sie nicht. Sie schrieb an Wladimir Putin. "Einen Brief
im Internet", sagt sie. Sie wohnt nun bei ihrem Sohn. Er hat zwei Kinder,
arbeitet als Schweißer in einem Werk des japanischen Bagger-Herstellers Komatsu
und schläft jetzt mit seiner Frau auf der Couch im Kinderzimmer. Bei der
nächsten Wahl wollen sie Wladimir Putin wählen. Warum? "Sonst werden wir
hier ewig aufeinanderhocken."
In der Tradition der Zaren
Andere
Städte - andere Schicksale. Wenn es einen kollektiven Putin gibt, dann hat er
kein Alter, kein Geschlecht, keinen Wohnort. Wladimir Putin braucht
mittlerweile keine Plakate, um überall zu sein, und für Statuen ist er offenbar
zu bescheiden. Sechzehn Jahre Putin haben die russische Gesellschaft zwar
verändert, aber anders, als man bei dieser Dauer der Amtsausübung annehmen mag.
Putin hat den Menschen die Illusion geschenkt, dass sie sich nicht zu verändern
brauchen. Die Welt geht schon nicht unter.
Das ist eine archaische Einstellung,
die bereits die Zaren pflegten und die in der späten Sowjetunion vorherrschte.
Wladimir Putin braucht sie, um an der Macht zu bleiben. Mit etwas Geschick geht
das in Russland, erfahrungsgemäß, sehr lang gut. Bis plötzlich nichts
mehr geht.